Carpe Momentum

Eine gute Entscheidung kann nur einen Münzwurf entfernt sein.

Wenn wir uns nicht entscheiden können, können wir eine Münze werfen, die uns die Entscheidung abnimmt. So die Theorie. In der Praxis kann uns niemand jemals eine Entscheidung abnehmen. Dabei verhält es sich ähnlich wie im Grundsatz „Man kann nicht nicht kommunizieren“, denn man kann auch nicht keine Entscheidung treffen. Selbst wenn die Münze Kopf zeigt, obliegt es uns, ob wir den Vorschlag annehmen. Die Entscheidung bleibt also bei uns.

Die Welt um uns bewegt sich, auch wenn wir verharren

Sinngemäß bezeichnet „Stillstand bedeutet Rückschritt“ das gleiche, wenn auch mit einem anderen Schwerpunkt. Es soll heißen: Die Welt dreht sich weiter, auch wenn sie für uns stillsteht. In jedem Moment unseres Daseins treffen wir Entscheidungen, fortwährend, ohne, dass wir uns dessen jemals entziehen könnten. Ebenso wie unser Herz jeden Moment unseres Lebens schlägt, treffen wir in jedem Moment unseres Daseins immerzu Entscheidungen. Wir entscheiden zu warten, loszugehen, zuzupacken, loszulassen, zu sprechen, zu schweigen, eine Veränderung anzunehmen oder Bestehendes fortzuführen.

Eine Entscheidung ist eine Entscheidung, Bewertung nicht nötig

Erkenntnisse lassen sich nur im Nachhinein gewinnen. Eine Bewertung wie „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „schlecht“ ist bestenfalls in der Retrospektive möglich, aber auch dann nicht immer sinnvoll oder notwendig. Im Zuge einer kontinuierlichen Optimierung hängen wir, metaphorisch gesprochen, laufend Labels an Entscheidungen in der Hoffnung, daraus zu lernen und für die nächste, ähnlich aussehende Situation, die unseren Weg kreuzt, noch besser gewappnet zu sein als bisher.

Diese Labels wiegen uns in der trügerischen Sicherheit, Situationen und daran geknüpfte Dinge, Sachverhalte oder Emotionen einzuordnen und dadurch ein Stück besser damit umgehen zu können. Doch an jedem Label hängt eine Bewertung, die wir dem Sachverhalt, der Situation oder dem Gefühl geben. Dieser Wert, diese Bewertung, kann sich klar im Schwarz-Weiß-Schema befinden und beispielsweise „gut“ oder „schlecht“, „richtig“ oder „falsch“, „wahr“ oder „unwahr“ lauten. Es gibt aber auch Labels, die Schattierungen abbilden können. Zu jenen Schattierungen gehören auch komplexere Konzepte, deren Vielschichtigkeit wir, selbst wenn wir sie mit einem Begriff benennen, längst nicht in einem Wort gerecht werden können. Beispiele für Labels, die sich vom klaren Schwarz-Weiß lösen und etwas Interpretationsspielraum zulassen, sind „vorteilhaft“ und „wünschenswert“. Beide Begriffe benennen Konstrukte, deren Bewertung je nach Standpunkt variiert, Stichwort Relativtheorie. Streng genommen stecken auch hinter „richtig“ und „falsch“ komplexe Konstrukte und subjektive Wertevorstellungen, allein die Wortwahl suggeriert Objektivität. Hinter jedem Label, hinter jeder Bewertung liegen Wertevorstellungen und Glaubenssätze im Schützengraben, bereit, auf unsere Gedanken und unsere Gefühle zu feuern, wenn etwas nicht in ihr Raster passt.

Mehr als 0 und 1

Indem wir Situationen, Entscheidungen oder Verhaltensweisen Labels anhängen, bewerten wir sie. Jede Bewertung erfordert Energie, die wir an anderer Stelle einsetzen könnten. Für Achtsamkeit uns selbst gegenüber zum Beispiel. Anstatt unser Außen zu bewerten, könnten wir aufmerksam in uns hineinfühlen und ohne Bewertung oder Interpretation uns selbst wahrnehmen. Weg von „Ich bin schwach“ und hin zu „Ich verspüre Durst, meine Beine fühlen sich wackelig an“. Ist das nicht dasselbe? Mitnichten.

Wenn wir wahrnehmen, ohne zu interpretieren oder zu bewerten, lassen wir Raum. Raum für Eindrücke, Raum für Entfaltung, Raum für Entspannung. Diesen Raum können wir nutzen, um unsere Bedürfnisse wahrzunehmen (nicht zu bewerten!) und zu erfüllen, und so gut für uns selbst zu sorgen. Sorgen wir gut für uns selbst, können wir auch nach außen mehr Raum geben. Raum für Menschen und Situationen, ihnen erlauben, so zu sein, wie sie es sind. Ganz ohne Bewertung. Im besten Fall bleibt dann auch Raum für uns selbst.

Jetzt fällt der Groschen

Und was haben Bewertungen mit einem Münzwurf und mit guten Entscheidungen zu tun? Niemand kann uns eine Entscheidung abnehmen, nicht einmal die kleinste Entscheidung. Und wenn sich eine Situation verändert und wir den Eindruck haben, dass uns diese äußere Veränderung die Entscheidung abgenommen hat, so haben wir doch selbst entschieden. Und sei es nur die Entscheidung, so lange zu verharren, bis sich Gegebenheiten verändern. Unabhängig davon bleibt es außerdem immer auch uns selbst überlassen, wie wir mit einer Situation umgehen. Niemand kann für uns entscheiden, ob wir uns freuen oder etwas genießen. Das können nur wir selbst entscheiden.

Des Pudels Kern

Eines meiner Lieblingsworte ist vielschichtig. Es deutet in meinen Augen auf die Komplexität, die den allermeisten Dingen innewohnt und aus vielen Mosaikteilchen besteht, von denen viele zu kantig für Labels sind. Selbst wenn Entscheidungen oftmals 1 oder 0, hop oder top, ein Ja oder ein Nein erfordern, so haben diese kurzen, geschlossenen Fragestellungen vielfach eine lange, gewundene Vorgeschichte, die lediglich in dieses Nadelöhr aus ja oder nein mündet, aber nicht darauf zu reduzieren ist. Trauen wir uns, uns zu entscheiden und schlüpfen wir durch das Nadelöhr, öffnen sich uns Türen, Fenster, gar Horizonte, eröffnen sich uns Möglichkeiten, Wege, gar Welten. Letztlich liegt die Entscheidung nur bei uns und das ist doch irgendwie auch tröstlich.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Relativtheorie

Über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten. Über Meinungen allerdings schon. Vorausgesetzt, man definiert Meinung als Haltung mit einer Argumentation, während sich der Geschmack mit der Begründung „Weil ich es eben mag“ zufrieden geben darf.

Wir sehen niemals die Wirklichkeit, brachte mir ein Lehrer bei, wofür er folgendes Bild bemühte: Ein Zylinder sieht von oben aus wie ein Kreis, von vorne wie ein Rechteck. Diese beiden Formen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht und doch treffen sie beide auf ein und dieselbe Sache zu. Ansichtssache eben. Derart verhält es sich mit vielem.
Für Kreis und Rechteck lassen sich Vor- und Nachteile einsetzen. Beispiele? Bitte: Ein gebrauchtes Auto mit einem niedrigen Kilometerstand ist gut, wenn der Zeitraum seit der Erstzulassung entsprechend kurz ist – andernfalls wurde das Auto zu wenig bewegt und ist vermutlich nicht gut in Schuss. Energiereiche Nahrung ist gut, wenn man viel Sport treibt – tut man das nicht, macht einen diese Ernährung behäbig, kraftlos und dick. Über Regen freuen sich wohl die wenigsten Sportler, aber vielleicht einige Gärtner.
Ein Sachverhalt ist selten eindimensional, sondern oftmals vielschichtig und aus mehreren Perspektiven wahr. Kurz um:

Es kommt darauf an.

In der Oberstufe lehrte mein Biotechnologielehrer mich, dass eine gute Antwort immer mit diesen vier Worten beginne. In meiner Germanistik-Bachelorprüfung einige Jahre später erklärten mir meine Prüfer, dass dieses Relativieren unwissenschaftlich sei. Dabei kann Wissenschaft doch nur dann Fortschritte bringen, wenn etwas Bekanntes in Frage gestellt und somit aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wird, dachte ich damals in der Prüfung und denke ich noch heute.
Ich habe diese Relativhaltung bis heute beibehalten, weil sie mir sinnvoll und erstrebenswert erscheint. Meiner Meinung nach kann eine neue Perspektive einen neuen (Wissens-)Horizont eröffnen. Und ich für meinen Teil höre mir jede mir noch so widersinnig scheinende Argumentation gerne einmal an. So kann ich auch meinen eigenen Standpunkt reflektieren. Und lieber lasse ich mich eines Besseren belehren, als dumm auf meinem bisherigen Standpunkt zu verharren.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!